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Krisen, Reflektionen und Splitter in den Augen

blende

»Trainer zu sein, heißt Entwicklungsarbeit.
Der Aufbau einer Mannschaft dauert mindestens ein Jahr. Es gibt mehrere Vereine, die in den vergangenen Jahren aus den internationalen Rängen abgestürzt sind. Die sind diesen Prozess nicht gegangen, sie haben Jahr für Jahr die Spieler ausgetauscht und sind bisher nicht wieder oben angekommen. Vielleicht wäre es einigen in Bremen lieber, man würde kurz fünf, sechs Spieler kaufen und damit den Prozess beschleunigen. Aber wäre das wirklich Werder? Nein – und es wäre schon gar nicht das Werder von heute.«

– Robin Dutt (im Interview mit der Kreiszeitung)

Kaum etwas ist wichtiger für den gemeinen Fußballfan als eine ordentliche Dosis Zwangsoptimismus. Wer würde auch sonst Woche um Woche und entgegen aller Empirie seine freie Zeit in überfüllten Fernzügen, lieblos-standardisierten Sportarenen oder verrauchten Fußballkneipen verbringen? In der wahnwitzigen Hoffnung, nach Ablauf von neunzig Minuten berauscht vom Sieg der favorisierten Mannschaft / einem besonders schönen Spiel / ein paar Erfrischungsgetränken (Nichtzutreffendes bitte streichen) in bester Stimmung den Heimweg anzutreten? Die Forschungslage ist unübersichtlich und es kann nicht einmal als gesichert gelten, dass nicht auch latenter Masochismus zentrales Motiv im Dasein zahlreicher Fußballfans ist. Aber bevor das alles pathologisch wird: dem vermutlich ebenso zwanghaften wie notwendigen Optimismus zum Trotz müssen sich die Anhänger des SV Werder von 1899 (und damit auch wir uns) dieser Tage die Frage stellen: Ist mein Verein in der Krise? Oder ist die Krise in Anbetracht der letzten Spielzeiten und Pokalwettbewerbe, ungewohnter Personalfluktuation am sonst so beschaulichen Osterdeich und wiederholter Eskapaden nomineller Profispieler gar Normalzustand geworden?

»Die Aufgabe ist tatsächlich schwierig. Aber es kann doch auch niemand gedacht haben, der Trainer drückt hier auf einen Schalter – und wir rauschen durch die Liga. [D]er Plan braucht seine Zeit. Es ist ein harter Kampf, da unten rauszukommen. Es gibt nicht jedes oder jedes zweite Wochenende drei Punkte.«
(ebd.)

Ein weitverbreiteter Trugschluss geht von der Annahme aus, Krisen würden über den Zustand eines Unternehmens, einer Wirtschaft, einer Ehe oder eben eines Fußballvereins informieren können. Das ist bestenfalls nur in sehr begrenztem Maße der Fall. Ein ambitionierteres Verständnis der Funktion von Krisen ist der Beobachtungsgabe des Bielefelder Systemtheoretikers und Soziologen Niklas Luhmann zu verdanken, der seinerzeit vorschlug, den Blick vom kritischen Objekts weg auf den Kontext hin zu richten, in den es eingebettet ist. Denn kein Ereignis und keine Kette von Ereignissen sei problematisch an sich, sondern immer relativ zu jenen etablierten Strukturen und Routinen, die sich in gesellschaftlichen Erwartungen niedergeschlagen haben. Kurz: Es gibt keine problematischen Ereignisse – es gibt nur problematische Erwartungen. Eine Krise irritiert und verunsichert uns, weil sie mit etablierten Vorstellungen bricht. Sie zwingt uns, unsere Erwartungshaltungen kritisch in den Blick zu nehmen und verweist auf möglicherweise verdrängte Zusammenhänge, mit denen man nicht gerechnet hat – oder mit denen man nicht rechnen wollte. Krisen mobilisieren zusätzliche Aufmerksamkeit und Ressourcen. Sie ähneln in dieser Hinsicht den Immunreaktionen des menschlichen Körpers, die in hinreichend kritischen Fällen mit Fieber einhergehen.

»Wenn du zu Werder gehst, bekommst du Zeit. Das fordere ich für die Mannschaft ein. Das ist kein Krankheitsbild, bei dem ein Mittel verabreicht wird und dann ist alles gut. Das ist eine ganz junge Mannschaft, mit der wir viel arbeiten müssen. […] Ich kann nicht versprechen, dass das schon ganz schnell klappt. Aber wir versuchen alles Menschenmögliche, dass wir im Lauf der Saison eine Stabilität hinbekommen.«
(ebd.)

Und was hat das alles mit dem SV Werder zu tun? Bremen fiebert. Die Stimmung unter den Fans pendelt zwischen Ratlosigkeit, Nervosität und Depression. Auch bei uns Blogautoren. Und das verwundert nicht, wenn man die über Jahre etablierte Selbstwahrnehmung als deutscher Meister, als Kandidat für den internationalen Wettbewerb oder als erfolgreiche Pokalmannschaft berücksichtigt. Oder noch fundamentaler die Gewissheit, all diese Erfolge ohne die finanziellen Mittel der Topclubs zu leisten, trotzdem jederzeit attraktiven Offensivfußball zu präsentieren und nicht zuletzt die Wohlfühl-Atmosphäre personaler Kontinuität innerhalb der heilen Werder-Familie. Lauter Gewissheiten, die in den letzten Spielzeiten aufgegeben oder zumindest mit großen Fragezeichen versehen werden mussten. Nach sieben mehr oder weniger fetten Jahren an der Weser ist das Mittelmaß (und die daraus direkt resultierende Finanzlage) der letzten Spielzeiten genau so ein unerwartetes und damit kritisches Ereignis.

»Zunächst müssen wir eine stabile Mannschaft haben, bei der die Fans das Gefühl haben, dass jeder Spieler 100-prozentigen Einsatz zeigt. Werder muss jedoch weg von diesem Champions-League-Gedanken. Das Denken, dass du weit oben bist und mit den Großen mithalten willst. Wir müssen einen Schritt zurückgehen, um wieder zwei Schritte nach vorn zu kommen.«
– Thomas Eichin (im Interview mit der Welt)

Wir tun gut daran, diese Einsicht nicht länger zu verdrängen. Bekanntlich ist der Splitter im Auge das beste Vergrößerungsglas: Werder Bremen wird auf absehbare Zeit nicht in der Spitze der Bundesliga zu finden sein, von internationalen Wettbewerben ganz zu schweigen. Am Verein selbst, am Kader oder seiner aktuellen Situation können wir als Fans nichts ändern, – an unserer Erwartungshaltung schon. Und eine gute Nachricht gibt es auch: Wir haben den Eindruck als habe das Duo aus Robin Dutt und Thomas Eichin ein sehr genaues Gespür für die Krise des Vereins und ihre Ursachen. Und das ist viel wert.

Postscriptum.
Ohne in eine dubiose Kollektiv-Rhetorik abgleiten zu wollen (à la »das geht nur gemeinsam«) möchten wir als Fans des SV Werder Bremen unseren bescheidenen Teil zum Projekt Werder 2013 beisteuern. Auch wir möchten besagten Schritt zurück machen, in der Hoffnung irgendwann zwei Schritte nach vorn gehen zu können. Unsere Ankündigung, die Online-Aktivitäten bis auf Weiteres einzustellen, möchten wir nicht als Rückzug gedeutet wissen. Möglicherweise muss kurz- oder mittelfristig der Fokus dieses Blogs ein wenig verschoben werden, aber das ist Spökenkiekerei. Wir sind jedenfalls zu gleichen Teilen überrascht und dankbar für die aufmunternden Worte, die uns via Twitter, Facebook und die Kommentarspalte erreichten. Wir bleiben mit Euch am Ball.
Lebenslang grün-weiß!

banner-mit-rauteFoto: Wellenbrecher.

6 Kommentare

  1. Grossartig geschrieben- Respekt
    Die Erkenntnis kommt aber in der Regel erst mit dem Alter.
    Bin mit Werder damals abgestiegen-die Scheiss 70iger mitgemacht.
    Bin froh soviele Erfolge dann miterleben zu dürfen.
    Lebenslang grün – weiß

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