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Black Monday – Dilemma, Stimmung und Boykott.

»Es gehört zu den fundamentalen Rechten und Pflichten eines freien Menschen, zu entscheiden, welche und wessen Bedürfnisse ihm am wichtigsten erscheinen.«
– F.A. Hayek, Die Verfassung der Freiheit

»Shiny inventions, unobtainable for the real…«
– Sleaford Mods, Black Monday

Vier Bremer Ultrà-Gruppen haben ihren Boykott des Montagsspiels gegen den VfB Stuttgart am 02. Mai bekanntgegeben. Sie schließen sich damit dem Boykott der aktiven Stuttgarter Fanszene an. Auf den ersten Blick eine irritierende Entscheidung, gerade in Anbetracht der jüngst von allen Fans eingeforderten unbedingten Unterstützung im Abstiegskampf (»Alles geben!«).
Jetzt?
Nach dem in der letzten Woche so mühsam erarbeiteten Stimmungswandel im Stadion, für den es am Wochenende so viel Zuspruch von allen Seiten gab?
Wie geht das zusammen?
Ein Plädoyer gegen zu schnelle Urteile.

Ostkurve

Der Mensch tendiert dazu, das schnelle (Vor-)Urteil einer Analyse mit Augenmaß vorzuziehen. Das kann man beklagen oder zur Kenntnis nehmen. Manchmal braucht es nicht einmal eine Analyse, da tut es auch ein zweiter Blick. Riskieren wir ihn: Dann könnte man nämlich erkennen, dass die Entscheidung der Bremer Gruppen zu gleichen Teilen wichtig, richtig und konsequent ist. Bei genauerer Betrachtung tritt eine Dilemmasituation zu Tage – eine Situation also, die scheinbar keine gute Lösung zulässt. In der Suche nach einer angemessenen Reaktion auf das Dilemma kollidieren zwei gleichermaßen wichtige Ziele miteinander: das kurz- und mittelfristige Ziel des Klassenerhalts mit dem hierfür nötigen unbedingten Support für die Mannschaft im derzeitigen Abstiegskampf und das mittel- und langfristige Ziel eben solchen Support auch zukünftig gewährleisten zu können. Denn das ist alles andere als selbstverständlich: Gerade Auswärtsfahrten erschweren die ohnehin komplizierte Koordination von Fußball, Freundschaften, Familie und Beruf. Die fortschreitende Zerstückelung der Spieltage und ihre kurzfristige Terminierung verunmöglichen zusehends die ohnehin schwierige Situation.
Dabei ist der eingeschlagene Weg keineswegs alternativlos. Das Argument, die dem Bundesligabetrieb inhärente Gewinnlogik würde die Übertragung möglichst vieler Einzelbegegnungen notwendig machen, ist nicht schlagend: Die Attraktivität für die Auslandsvermarktung eines montäglichen Topspiels zwischen Darmstadt und Hannover (Beispiel willkürlich gewählt) vor leeren Rängen mag verglichen mit einem turbulenten Spieltag samt ereignisreicher Konferenz ernsthaft in Frage gestellt werden – bloße Quantität von Übertragungen ist kein überzeugendes Alleinstellungsmerkmal, doch das nur am Rande.

Haltungen und Kompromisse

Was bleibt der Fußballfreund_in also im Dilemma?
Das eigene Gewissen. Die Frage nach einer persönlichen Haltung stellt sich individuell und ihre Beantwortung ist für alle Betroffenen eine Gratwanderung. Kurz-, mittel- und langfristige Ziele wollen und müssen hierbei miteinander abgewägt und priorisiert werden. Eine Situation, um die niemand gebeten hat und deren Zeitpunkt für den SV Werder kaum ungünstiger sein könnte. Darum ist die Konsequenz der Ultràs folgerichtig: sie überlassen die Entscheidung den betroffenen Einzelpersonen, die Gruppen selbst ziehen sich zurück.

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Ostkurve

In der besten aller möglichen Welten bliebe das Stadion am 02. Mai leer, als unmissverständliches und deutliches Signal an die DFL (in der besten aller möglichen Welten wäre der SV Werder aber auch Deutscher Meister, Europa- und DFB-Pokalsieger und »Abstieg« nicht Teil unseres alltäglichen Wortschatzes). De facto braucht es einen Kompromiss und es braucht Bereitschaft zu Differenzierung, bei der gesamten Anhängerschaft des Vereins.
Das Dilemma wiederholt sich für jede_n Einzelne_n.
Keine der involvierten Gruppen hat sich diese Entscheidung leicht gemacht. Ihren Beschluss respektieren heisst: sich dem Boykott anzuschließen. Oder halt ein lautes Stadion zu schaffen und die Mannschaft so im Abstiegskampf zu unterstützen, womöglich als zweite Stufe der #greenwhitewonderwall? Weite Teile der grün-weißen Anhängerschaft werden das Dilemma für sich anders auflösen als von den Ultrà-Gruppen gewünscht. Für Letztere bedeutet das im Umkehrschluss: die individuellen Entscheidungen der übrigen Fans nicht als Verrat an der Sache zu interpretieren – auch hier sollte das Augenmaß dem Vorurteil vorgezogen werden.
Zuletzt ein Wort an all jene, die sich seit Jahr und Tag über den vermeintlich »monotonen Dauersingsang in der Ost« beschweren (und für den Boykottaufruf vermutlich besonders wenig Verständnis haben werden): Euch bietet sich eine wunderbare Gelegenheit den so oft gewünschten spielbezogenen Support lautstark in die Tat umzusetzen.

ALLEZ LES VERTS!
ALLES AUF WERDER.

 

Edit: Caillera hat einen ausführlicheren Text zum Boykott veröffentlicht. Auch wenn er uns in Sachen Kapitalismuskritik weniger präzise und anschlussfähig erscheint als die oben verlinkte Erklärung reichen wir den Link gerne nach. Nicht zuletzt, weil er weitere Dimensionen des Boykotts aufs Tableau bringt.
Fotos: Fanzeit, Instagram, eigene.

11 Kommentare

  1. Theo

    so eine schwachsinnige aktion. die DFL interessiert das einen feuchten furz, ob da ein paar fans mehr oder weniger ins stadion kommen… stattdessen schwächt man seine mannschaft im existenzkampf, indem man diese großartige chance verschenkt, sie stimmungsmäßig zu unterstützen. hier geht es um die zukunft von werder, was interessiert einen werder-fan der VfB und ob da irgendwelche ultras zum spiel kommen oder nicht? kindergarten!

  2. @Pepsen

    Man sollte allerdings auch die Frage stellen, wie wichtig der DFL/dem DFB die Stimmung im Stadion überhaupt ist.
    Viel entscheidender sind die Zuschauer vor dem TV und nicht die Fans im Stadion.
    Schalte ich bei einem Spiel ein, weil die Stimmung so toll rüberkommt oder weil ich ein interessantes Fußballspiel sehen will? Ggf. meinen favorisierten Verein.
    Inwiefern würde man es sogar begrüßen, dass weniger Auswärtsfans zum Spiel fahren?

    Ich bin selber auch gegen das Montagsspiel, da es, als in Hamburg wohnender Werder-Fan, wirklich mies ist. Jedoch glaube ich, dass diese Aktion, auch wenn sie nicht unwichtig sein mag, überhaupt gar nichts bringen wird.
    Viel effektiver wäre ein Boykott der TV-Zuschauer. Ohne Einschaltquote wäre die Aufsplittung des Spieltags nämlich total unsinnig.

    • spe

      »Schalte ich bei einem Spiel ein, weil die Stimmung so toll rüberkommt oder weil ich ein interessantes Fußballspiel sehen will?«

      Im schlimmsten Fall bekommst Du beides nicht. Wie oben angedeutet kaufe ich das Argument nicht, es brauche in ökonomischer Perspektive möglichst viele unterschiedlich terminierte Spiele. Ein erfolgreiches »Produkt« (um im Jargon zu bleiben) braucht ein Alleinstellungsmerkmal. Für die Vermarktung der Bundesliga böte es sich an, nicht dieselben Fehler zu begehen, die man in England bei der Vermarktung der Premier League begangen hat. Kurz: Man könnte statt auf möglichst viele Einzelspiele auf ein unterhaltsames Paket setzen. Dafür braucht es Fans, Support, Stimmung (eben all das, was britische Fußballfans mittlerweile auf den Kontinent reisen lässt) – und da schließt sich der Kreis.

      • @Pepsen

        Da wäre nun die Frage: Wie sehr achtet der Zuschauer auf die Stimmung? Wie wichtig ist sie ihm?
        Entscheide ich mich für ein Pay-TV-Abo, weil ich die Atmosphäre im Stadion mitbekommen will oder, weil ich so viele Spiele wie möglich sehen will?

        Wie schon bei meinem ersten Beitrag erwähnt, bin ich absolut gegen die Aufsplittung des Spieltags, doch sehe ich den Erfolg bei dieser Protestaktion eben nicht, da er mMn an der falschen Stelle ansetzt.

        Du bezeichnest die Vermarktungsstrategie der PL als Fehler. In den Augen des DFB/der DFL ist diese Variante aber vielleicht vorbildlich und ebenfalls erstrebenswert.
        Im Endeffekt geht es doch um nichts anderes als eine gute Einschaltquote, zu möglichst vielen Zeiten

        • spe

          »Im Endeffekt geht es doch um nichts anderes als eine gute Einschaltquote, zu möglichst vielen Zeiten«

          Exakt. Dafür darfst Du die Attraktivität Deines »Produkts« aber nicht gefährden – und genau das geschieht imho (bzw. geschah in der PL, von der man in genau dieser Hinsicht lernen könnte – wenngleich anders als die DFL das zu glauben scheint…).

    • uwue

      Danke!
      Das sehe ich genauso!
      Und die Bitte der Spieler sie wie am Samstag auch bei allen restlichen Spielen zu supporten, kennen die Ultra-Gruppen auch?

  3. @Pepsen

    Aber das ist halt etwas, was man mit den Spielansetzungen regeln kann. Es wird versucht möglichst attraktive Partien auszuwählen. Zu dem gäbe es an den Montagen sowieso nur Paarungen, die min. einen Europa League Teilnehmer beinhalten.

  4. Pingback: Nordderby, Schikane, Boykott | vert et blanc

  5. Manu

    Loide, Montag muss es rummsen. Ultras in guten Zeiten ganz stark. Was ist aber jetzt und heute?Was ist kommenden Montag? Wir stehen zu dir bis In schlechten Zeiten?Jungs geht mal in euch:

    wir stehen zu dir bis in alle Zeit
    Auch wenn die Welt versinkt
    kannst du noch hören wie die Kurve singt!
    Grün Weiß ein Leben lang

    Die Kurve muss singen, ihr müsst singen, man seid da für eure Liebe,euren Verein… Werder braucht euch. Oder wolltet ihr euch in ein paar Wochen sagen lassen müssen, das ihr den Abstieg mit euren Emotionen und euer Lautstärke, hättet verhindern können. Scheiss erstmal auf Boykott. Das können wir nächstes Jahr. ALLEZ und immer Werder

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