Uli Krug skizziert in seinem ansonsten sehr lesenwerten Text »Blindes Grätschen ist nicht mehr gefragt« die zeitgenössische Ultrà-Kultur als
»[…] ein getreues Abbild der Präsenz- und Präsentationspflicht auf dem Arbeitsmarkt; ganz betont unpolitisch und scheinbar autoritätskritisch […], aber engagiert bis in die Haarspitzen« [und dem Autor fällt es schwer] »zu sagen, ob es sich dabei hauptsächlich um eine Sportifizierung des Arbeitslebens handelt oder, umgekehrt, um eine Ausdehnung des Arbeitskrieges auf die Ränge der Stadien«.
So zutreffend Krugs Beobachtungen zur »Postnationalmannschaft« (und der Konsequenzen ihrer Veränderung für nationalistische Traditionsfans, für antinationale Fußballhasser und, nicht zuletzt, für die schwarz-rot-goldene Schminkset-Ökonomie) sind, so verkehrt ist sein kurzer Passus zur Ultrà-Bewegung. Vermutlich gerät der Text schon dadurch in eine Schieflage, dass Krug im Übergang vom deutschen Alt-Fan der Nationalmannschaft mit seiner Landserfolklore zu schnell zu den vor allem im Milieu des Vereinsfußballs aktiven Ultras springt, ohne dieser Tatsache explizit Beachtung zu schenken. Krugs Kategorienfehler wird zusätzlich verstärkt durch seine Stilisierung der Ultras als quasi-liberale Wettbewerber auf einem Markt um Aufmerksamkeit. Er parallelisiert die Konkurrenz zwischen den Kurven mit jener auf dem Arbeitsmarkt:
»Hier wie da, bei der Arbeit und im Stadion, geht es um Projekte, in die die Einzelnen sich mit Haut und Haar einbringen müssen, um anerkannt und aufgenommen zu werden. Bloßer Konsument eines Fußballspiels darf man nicht mehr sein, sondern Krieger in einem symbolischen Wettbewerb gegen die Krieger des Konkurrenzunternehmens.«
Dies steht in schroffem Gegensatz zum Selbstverständnis der meisten Ultrà-Gruppen – was für sich noch kein Argument gegen Krugs Kritik darstellt. Dennoch lohnt es, hier zu differenzieren: In der Regel und als kleinster gemeinsamer Nenner rekurrieren Ultras unter dem Label „Gegen den modernen Fußball«, mit dem sie sich gegen eine fortschreitende Ökonomisierung des Fußball zu positionieren trachten, auf einen vulgären Antikapitalismus. Für den Ultrà-Aktivisten gilt analog, was Ludwig von Mises 1927 in seiner Schrift »Liberalismus« dem sogenannten Wirtschaftsromantiker attestierte:
»[Sein Blick] schweift ins Mittelalter zurück, nicht in das Mittelalter, das einst gewesen ist, sondern in ein Phantasiegebilde, das es nie gegeben hat. […] Wie glücklich waren da die Menschen ohne moderne Technik und ohne moderne Bildung! Wie konnten wir nur leichtfertig auf dieses Paradies verzichten! […] Den Lobrednern des Mittelalters kann man nur antworten, daß wir darüber, ob der mittelalterliche Mensch sich wohler gefühlt hat als der moderne Mensch, nichts wissen.« (Mises, Liberalismus, S. 165ff.) [Allerdings ist an] eine Rückkehr zum Mittelalter […] nicht zu denken, wenn man sich nicht dazu entschließt, die Bevölkerung vorerst auf den zehnten oder zwanzigsten Teil ihres gegenwärtigen Standes zurückzuschrauben, und noch überdies jedem einzelnen eine Genügsamkeit zur Pflicht macht, von der sich der moderne Mensch keine Vorstellung machen kann.« (ebd., S.76)
Dies gilt mutatis mutandis für den modernen Fußball wie für die moderne (d.h. arbeitsteilige, kapitalistische) Gesellschaft – die explizite Kritik an ersterem kann als Symptom impliziter Kritik an letzterer begriffen werden.
Gepaart mit einem gleichermaßen neurotischen wie unzeitgemäßen Mix aus Lokalpatriotismus, Traditionsbewusstsein, Authentizität und Mackertum sowie einer der Ultrà-Bewegung inhärenten Tendenz zur Uniformierung und Aufrechterhaltung eines (mal mehr mal weniger latenten) Freund/Feind-Schemas muss man entgegen der Meinung Uli Krugs zu dem Ergebnis kommen, dass etwas mehr Wettbewerb und vor allem Individualisierung der sich so bodenständig gerierenden Ultrà-Bewegung eigentlich ganz gut zu Gesicht stünde.
Was wohl ein frommer Wunsch bleiben wird, steht doch ihr basaler Mobgedanke im krassen Widerspruch zu einem solchen Ziel. Die Kehrseite einer Kultur kapitalistischer Prägung war (eigentlich schon seit Rousseau) und ist bis heute die romantische Verklärung traditioneller Beschaulichkeit und Einfachheit, die Suche nach dem Ursprünglichen und Unverfremdeten, kurz: eine Sehnsucht nach vorzivilisatorischen Zuständen. Der Preis für die Rückkehr ist hoch.
»Doch nicht weniger widersinnig ist die Vorstellung, als könnte man die technisch-materielle Ausstattung unserer Wirtschaft beibehalten, wenn man die geistigen Grundlagen, auf der sie beruht, beseitigt hat. Man kann die Wirtschaft nicht rationalistisch weiterbetreiben, wenn einmal die ganze Denkungsart wieder auf Traditionalismus und Autoritätsglauben umgestellt worden ist.« (ebd., S.77)
Edit: Zum Textarchiv »Für mehr modernen Fußball«
(Überblicksseite über sämtliche Artikel zum Thema).
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