Wir erwähnten es neulich bereits. Vor einigen Wochen haben wir uns mit den Machern des ZEITSPIEL Magazins unterhalten: Über den »Modernen Fußball« und libidinöse Verengungen, über Ultràgruppen als leuchtende Vorbilder neoliberaler Verwertungslogik und nicht zuletzt über bessere und schlechtere Fanleben im Falschen. Das Interview ist in der »Überleben im Turbokapitalismus II« betitelten 15. Ausgabe des selbsterklärten Magazins für Fußball-Zeitgeschichte erschienen – und wir legen Euch den Erwerb der Ausgabe dringend ans Herz. Einen weiteren Einblick in die Thematik des Heftes könnt Ihr beim Hören der Podcast-Episode 29 von 120Minuten gewinnen, in welcher die Herausgeber zu Gast waren.
ZEITSPIEL: Ihr plädiert »Für den modernen Fußball!«. Findet ihr die Kommerzialisierung des Fußballs etwa gut?
vert et blanc: Ja. Denn das, was gemeinhin undifferenziert als »Kommerzialisierung« bezeichnet und abgewertet wird, ist ja zunächst eine Professionalisierung des Sports. Ihre Zurückweisung speist sich aus diffuser Angst in Anbetracht umfassender Veränderungen, die mit dieser Professionalisierung einhergehen und die sowohl den Sport als solchen wie auch den individuellen Fan als Teil davon betreffen. Die Sorge um das Selbst oder die Welt kann sich als Wunsch nach Umkehr in vermeintlich bessere Zeiten ausprägen und in rigorose Fortschrittsfeindlichkeit umschlagen. Es ist vom »Ausverkauf des Fußballs« die Rede und dass »der Kommerz den Sport bis zur Unkenntlichkeit entstellt«; im Jargon werden »Tradition« und »Identität« als Alternativen in Stellung gebracht. Früher war es besser: »Gegen den modernen Fußball!«, heißt es – auch wenn man insgeheim ahnt, dass man sich selbst belügt. Schlimmer noch: Dass es womöglich sogar eben jene traditionalistisch-identitäre Folklore ist, die den Marktwert der Ware Fußball noch steigert.
Die psychoanalytische Theorie bezeichnet solche Abwehrmechanismen des zeitweiligen Rückzugs auf frühere Entwicklungsstufen als Regression. »Für den modernen Fußball!« bedeutet für uns die fundamentale Opposition zu jenem regressiven Geist, der die Rückkehr zu längst vergangenen, romantisch verklärten und wahrscheinlich niemals real existierenden Zuständen fordert. Aber da sind wir schon mittendrin und womöglich etwas schnell… wir würden gerne noch mal zurückrudern und Dir die Frage zurückspielen: Was wäre denn für Dich die (oder auch nur eine) Alternative zur »Kommerzialisierung« gewesen?
ZEITSPIEL: Kommerzialisierung ist in einem kapitalistischen System in einem Sport, der auf Außenwirkung setzt und sich damit finanziert, unabdingbar. Da gibt es keine Alternative, es sei denn, man stellt die Systemfrage. Eine »Alternative« zur Kommerzialisierung gibt es also – zumindest innerhalb unseres Systems – nicht. Für uns geht es um die Frage nach der Mitwirkung: Nehme ich alles einfach hin oder versuche ich mitzugestalten? Das betrifft gesellschaftliche Ansätze und aus ZEITSPIEL-Blickwinkel natürlich die Frage, wie der Fußball unterhalb der Bundesligen und innerhalb des existierenden Systems perspektivisch überleben kann.
vert et blanc: Da sprichst Du einen wichtigen Punkt an, man muss in aller Deutlichkeit sagen, dass sich die Kapitallogik im Kapitalismus nicht außer Kraft setzen lässt. Über den Fußball unterhalb der Profiligen können wir nicht viel sagen. Dennoch ist es wichtig, diese Unterscheidung zu treffen: Lass uns den Bogen vom Großen zum Kleinen schlagen und bei der Transformation der oberen Ligen ansetzen. Ihre Professionalisierung wird – kontinuierliches Interesse am Sport vorausgesetzt – nicht aufzuhalten oder gar rückgängig zu machen sein. Und zurück wohin auch? Es hat nie ein Paradies gegeben. Fußball, wie wir ihn kennen, ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Produkt der Moderne. Und, konkret für den Fußball in Deutschland gesprochen, seit spätestens 50 Jahren kommerzialisiert. Diese Erkenntnis mag unbequem sein und stellt den Fußballfan vor eine Herausforderung: Wir beobachten, dass sich individuelle wie kollektive Ohnmacht in Anbetracht dieser Veränderungen, das gefühlte Ausgeliefertsein, immer wieder in wahnhafte Fixierung auf einen unterstellten Feind steigert – irgendjemand muss für die Misere doch verantwortlich sein! Personifizierung ermöglicht den Hass auf konkrete »Geschäftemacher«, auf die »Profiteure« der Professionalisierung, auf »Söldner« unter den Spielern, auf »Eventfans« und ein »bloß konsumierendes Klatschpappenpublikum« auf den Rängen und nicht zuletzt natürlich auf »Retorten-« oder »Plastikclubs«. Durch falsche Projektion wandelt sich Ohnmacht in eine Allmachtsphantasie, die Triebabfuhr verspricht: Nun kann der wahre Fan, der de facto längst Kunde ist, all das als »kommerziell« oder »künstlich« denunzieren und bekämpfen, was nicht ursprünglich, traditionell und authentisch daherkommt. Dabei ist er unwillig oder unfähig zu begreifen, dass die Kulturindustrie seine Etiketten und Emotionen schon lange kassiert und weiterverkauft hat: Der beste Kunde ist eben der, der sich kaufend nicht als Kunde wähnt. »Die Kunden? Das sind die Anderen!« Emotion hingegen ist echt – »Echte Liebe« halt.
Das bedeutet nun nicht, dass umstandslos alles zu begrüßen ist, was im Zuge der Professionalisierung geschieht. Wir freuen uns, wenn der Stadiongang bezahlbar bleibt und Fans nicht aus finanziellen Gründen vom Besuch einer Bundesligapartie ausgeschlossen werden. Auch die Zersplitterung der Spieltage samt ihrer Anstoßzeiten ist kritikwürdig, das darf deutlich gesagt werden. Es bedeutet aber gleichwohl nicht, dass man sich den Fußball oder die rohe, chauvinistische Fankultur der 1980er zurückwünschen sollte; diese Form der Romantisierung ist ebenso unangemessen wie gefährlich.
Showbusiness!
ZEITSPIEL: Welche (gesellschaftliche) Funktion hat Profifußball heute und welche kann er in Zukunft haben?
vert et blanc: Um mit einem Vorurteil aufzuräumen: Jeder zweite soziologische Aufsatz zum Fußball untersucht dessen vergemeinschaftende Aspekte, ob integrativ oder identitär. Hierbei handelt es sich um Nebeneffekte, die gesellschaftlich nicht irrelevant sind. Aber es ist eben nicht die primäre Funktion eines professionalisierten Sports. Der hat heute dieselbe gesellschaftliche Funktion wie vor fünfzig Jahren: Unterhaltung. An dieser Stelle lohnt nun doch ein vergleichender Blick auf den Amateurbereich: In lokalen Sportvereinen mit ehrenamtlicher Jugendarbeit geht es vorrangig um andere gesellschaftliche Funktionen als Unterhaltung, z.B. um Erziehung, Gesundheit, soziales Lernen etc. – obwohl Amateurfußball durchaus unterhaltsam sein kann. Klar, es braucht nicht notwendig ein professionaliertes System, um unterhalten zu werden. Versteh’ uns nicht falsch: Es spricht überhaupt nichts gegen Hobbykicks in der Wilden Liga oder den Besuch eines Fußballspiels in der Bezirksklasse. Sie eignen sich aber nicht als Antithese zum sogenannten »Modernen Fußball«. Der Vergleich ist schief. Und dem Zeitvertreib in wenig professionalisierten Spielklassen eine spezifische Ursprünglichkeit, Reinheit oder Authentizität zuzusprechen, ist sogar grober Unfug. Zumal jenseits der medialen Aufmerksamkeit nach wie vor das existiert, was in den oberen Ligen glücklicherweise weitgehend weggentrifiziert worden ist: Sexismus, Antisemitismus, Rassismus, Kollektivität, Provinzialismus. Anstatt über »echten Fußball« jenseits kommerzieller Interessen zu phantasieren, feiern wir die Loslösung von pathologischen Provinzialismen, archaischen Männerbünden und organischer Vergemeinschaftung.
ZEITSPIEL: Werder Bremen hat in der letzten Dekade einen tiefgreifenden Wandel durchgemacht und steht exemplarisch für die Veränderungen in der Bundesliga und im »großen Fußball«. Wie habt ihr den Prozess als Werder-Fans erlebt?
vert et blanc: Werder und seine Fans haben in den letzten zehn Jahren Einiges auf die harte Tour lernen müssen. To make a long story short: Der Verein konnte sich nicht mehr für europäische Wettbewerbe qualifizieren und verlor die finanziellen Mittel, die das Fundament des damaligen Gehaltsgefüges bildeten. Hinzu kamen weitere Belastungen, etwa durch den Ausbau des Weserstadions. Die Vereinsführung musste sich einem radikalen Umbruch stellen, der sich häufig genug wie ein Teufelskreis anfühlte: Mangelnder Erfolg zog finanzielle Engpässe nach sich, diese zwangen die sportliche Leitung zum Verkauf ihrer Leistungsträger. Werders dezimiertem Kader gelang es nicht auf dem Niveau zu spielen, an das man sich in Bremen gewöhnt hatte und all das führte zu neuen finanziellen Defiziten. Diese Abwärtsspirale nagte auch am Selbstverständnis der Fans: Abstiegskampf statt Champions League, graue Maus statt attraktivem Offensivfußball. Sportlich und finanziell abgehängt, ein Modernisierungsverlierer quasi. Umso bemerkenswerter ist, dass es auch immer wieder Positives zu vermelden gab, etwa aus der Fanszene.
ZEITSPIEL: Und was genau?
vert et blanc: Wir möchten an dieser Stelle gar nicht ins Detail gehen, weil uns das Narrativ von »den besonderen Werderfans« ziemlich auf die Nerven geht. Fakt ist, dass bei allem nachvollziehbarem Frust der Rückhalt für Mannschaft und Verein nicht in Frage gestellt worden ist. Es gab keine gewalttätigen Exzesse, keine Drohungen, keinen Zivilisationsbruch zwischen Fans und Spielern.
Ultrà-Lohnarbeit
ZEITSPIEL: Welche Entwicklungen bzw. Auseinandersetzungen seht ihr auf die Fanszenen zukommen, insbesondere die Ultràs?
vert et blanc: In Bremen konkret wird es darum gehen, historische Errungenschaften zu verteidigen, zum Beispiel die weitgehend nazifreie Ostkurve; sie ist erkämpft worden und nicht selbstverständlich. Entscheidend hierfür war und ist die dezidiert antifaschistische Postionierung der meisten Bremer Ultràgruppen. Aber was hier erreicht worden ist, kann auch wieder verloren gehen. Nicht nur im Fußball wittern reaktionäre Kräfte dieser Tage Morgenluft.
Wenn wir das Bild ein wenig größer machen und Deine Frage auf die Entwicklung der Ultràkultur als solche beziehen, kann man Vermutungen anstellen. Höchstwahrscheinlich geht Ultrà den Weg aller zunächst widerständigen Jugendkulturen: Entweder geht es irgendwann komplett im Mainstream auf oder es musealisiert sich selbst, gegenfalls durch den Rückzug aus dem Profifußball. Beides ist denkbar, Ersteres halten wir für wahrscheinlicher.
Zwei grundsätzliche Beobachtungen halten wir noch für erwähnenswert: Erstens natürlich die Widersprüchlichkeit, mit der Ultrà längst Teil der kulturindustriellen Verwertung geworden ist. Der oberflächlich antiautoritäre Habitus in all seinen kleinen und großen Inszenierungen ist hierfür kein Hindernis, im Gegenteil. Auch wenn das nicht allen Ultràs bewusst ist, haben doch die meisten eine Ahnung davon.
Den zweiten Punkt möchten wir als Überaffirmation im postmodernen Kapitalismus bezeichnen. Ausgangspunkt ist eine bemerkenswerte Wahrnehmungsverschiebung vom Spielfeld auf die Kurve: Im Zuge der »Ultràisierung« der Fankurven gerät die vorgeblich unterstützte Mannschaft aus dem Fokus während die Gruppen selbst in den Mittelpunkt der Wahrnehmung rücken. Man feiert und beschäftigt sich nun vorrangig mit sich selbst und ist dabei natürlich maximal engagiert. Das alles geschieht mit äußerster Ernsthaftig- und Humorlosigkeit, so dass man in letzter Konsequenz zugespitzt sagen könnte: Die für den modernen Kapitalismus einst wesentliche Unterscheidung von Lohnarbeit und Freizeit ist aufgeweicht und aus Unterhaltung ist Arbeit geworden. Die Präsenzpflicht, die Selbstaufopferung und das unbedingte Einbringen ins je aktuelle Projekt erinnert nicht zufällig an die Anforderungen des neoliberalen Arbeitsmarktes – eine Beobachtung, die auf Uli Krug zurückgeht. Dabei ist es parallel zur Professionalisierung des Sports auch zu einer Professionalisierung der Ultràgruppen selbst gekommen, hinsichtlich der Selbstdarstellung nach außen wie der Organisation nach innen. Das ist unseres Wissens alles nicht erforscht, aber die Ähnlichkeit der Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und den Stadionrängen ist ein erstaunliches Phänomen, das sich im symbolischen Wettstreit konkurrierender Ultrà-Kleinunternehmen aus anderen Städten fortschreiben ließe. Aber das sind Themen, mit denen sich der selbsterklärt progressive Teil der Ultràkultur noch auseinandersetzen darf.
Schnee von gestern
ZEITSPIEL: Gehen wir mal davon aus, dass die Bundesliga zur zweitklassigen Liga unterhalb einer »Super League« wird – was hieße das das für den Fußball in Deutschland?
vert et blanc: Hier ist die Fragestellung Teil des Problems: Die Globalisierung ist konsequent. Wenn Du Dich heutzutage mit jungen Fußballfans unterhälst, dann spielen traditionell-kleinräumige Restbindungen an Region, Stadtteil oder Verein nur noch eine untergeordnete Rolle, wenn überhaupt. Das ist zumindest unsere Beobachtung: Einzelne Spieler wie Cristiano Ronaldo haben da einen viel entscheidenderen Stellenwert. Die libidinöse Verengung auf subregional-identitäre Kollektive (»Unsere Stadt! Unser Block!«) mitsamt ihrer Heimatschutz-Rhetorik ist möglicherweise schneller Schnee von gestern als Viele sich das vorstellen können – ein durchaus wünschenswerter Gedanke, wenn man Identität als die Urform von Ideologie begreift.
Wenn zweitens, wie oben skizziert, die gesellschaftliche Funktion des Fußballs primär in Unterhaltung besteht, dann ist der Unterhaltungswert auch für diese Frage entscheidend. Unterhaltung gelingt dem heutigen Fußball mal besser, mal schlechter. Klassische Motive funktionieren immer, David gegen Goliath und das Sympathisieren mit dem Underdog etwa, aber das sind die Ausnahmen von der Regel. Technisch war der Fußball nie besser als heute, gleichzeitig langweilt seine Gleichförmigkeit zunehmend. Und das ist das tiefsitzende Dilemma der Kulturindustrie, die Kundschaft für die Inszenierung des Leistungssports sucht: Erfolg oder Perfektion sind nicht notwendig unterhaltsam, Langeweile ist ein Ladenhüter. Daher sind die Überlegungen zur »Super League« ökonomisch wie erzählerisch folgerichtig.
Und drittens und letztens: Ausdifferenzierung. Auf den ersten Blick halten wir eine solche Liga für eine ausgezeichnete Idee – im vollsten Wissen, dass unser Verein nicht mit von der Partie wäre. Bei genauerem Hinschauen ertappt man sich selbst bei der romantisierenden Verklärung einer unter gegebenen Umständen bestenfalls zweitklassigen Bundesliga, in der Werder mittelfristig sehr wahrscheinlich ökonomisch abgehängt werden würde – du merkst: auch wir sind da nicht immun, leider.
Mehr Infos zum Heft und dessen Bezugsmöglichkeiten gibt es unter zeitspiel-magazin.de und die Podcast-Episode gibt es bei 120Minuten.
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