Dies war ist der erste Artikel unseres Blogs zum Phänomen des »Modernen Fußballs« und der verdächtigen Ablehnung, die er provozierte und noch immer provoziert. Weitere sollten folgen, etwa zur Unfreiheit der Retrospektive, zum sogenannten Söldnertum oder zur Eigentlichkeit der »Traditionsfans«. Wir empfehlen die Lektüre aller Artikel; eine Übersicht findet sich hier.
Seit sich ab etwa Anfang der 1990er Jahre auch in Deutschland erste Gruppierungen unter dem aus Italien geborgten Label »Ultra« zur Unterstützung von Bundesligavereinen formierten und in Folge der gestiegenen Bedeutung von Ultra-Gruppen ab etwa 2000 ist neben der geradezu sprichwörtlichen »bedingungslosen Unterstützung« des jeweiligen Clubs wohl die diffuse Ablehnung jüngster (als »kommerzialisiert« empfundener) Entwicklungen des Profisports der kleinste gemeinsame Nenner der Ultra-Gruppen. Spruchbänder »Gegen den modernen Fußball« finden sich mittlerweile auch in der letzten Kurve und entsprechende Textpassagen in fast allen schriftlichen Selbstdarstellungen. Stellvertretend für Viele sei an dieser Stelle auf ein Beispiel aus München verwiesen:
»Auf den Punkt gebracht ist der ›moderne Fußball‹ für uns die Entwicklung, dass das Interesse der Profitmaximierung über alle anderen Interessen im Fußball gestellt wird. […] Entsprechend verstehen wir die Fußballvereine als das Gut der Fankurven und damit der Jugendlichen einer Stadt/Region, die sich mit diesen identifizieren. Die Fußballvereine gehören ihren Fans, die diesen schon Jahre überall hin folgen und ihr Herzblut dafür geben. Sie sollten kein Spielball von Profil neurotischen [sic!] Managern und Investoren sein, kein Spekulationsobjekt für Aktionäre und Konzerne. Sie sollten sich nicht nach dem Diktat der TV-Sender und den Vermarktungsinteressen der Bosse richten müssen.«
Die über die Popularisierung des Fußballsports erzürnten Kritiker bedienen sich in ihrer verkürzten Kritik im Wesentlichen zweier (in der Summe paradoxer) Erklärungsmuster:
1) Abstraker Kommerz.
Als »böser Kern« des modernen Fußballs kapitalistischer Prägung wird das abstrakte Finanzkapital bzw. die kapitalistische Finanzzirkulation ausgemacht (wenn etwa »die Finanzmärkte« als ein Akteur beschrieben werden – die konkrete Lohnarbeit des »ehrlichen Arbeiters« wird dagegen in der Regel nicht als problematisch wahrgenommen, vgl. die Dichotomie von »raffendem« und »schaffendem Kapital«).
2) Konkrete Projektionsflächen.
Zugleich wird der Kapitalismus und insbesondere die daraus resultierenden relativ abstrakten und komplexen Formen von Herrschaftsverhältnissen personalisiert und anschließend in ein simples Schema von gut und böse gepresst: gut sind die lokal-traditionellen Fans (die ihr Herzblut für den Verein geben und ein irgendwie Recht auf ihren Boden in den Kurven haben, vgl. Blut und Boden), böse sind dagegen die windigen Manager und Investoren, Aktionäre und Großkonzerne.
Der Prototyp des (Finanz-)Kapitals ist der Spekulant.
Der Fairness halber sei angemerkt, dass sich nicht nur die Ultra-Gruppierungen solcher Deutungsmuster bedienen. Aber das macht die Sache nicht besser, im Gegenteil: Sie sind in weiten Teilen der sogenannten globalisierungs- oder kapitalismuskritschen Bewegungen jüngerer Zeit anzutreffen. Dabei sind die Deutungsmuster selbst gar nicht jüngeren Datums, sie haben sogar eine jahrhundertealte Geschichte: Spätestens seit dem 13. Jahrhundert wurden immer wieder Juden mit den aus der Anwendung dieses Erklärungsmusters resultierenden Stereotypen identifiziert und als Wucherer, Spekulanten, Betrüger oder ausbeuterische Kapitalisten denunziert. Mehr und mehr wurden sie dabei als parasitäre Feinde eines ansonsten gesunden »Volkskörpers« begriffen. Klingt komisch? Ist aber so.
Die Struktur in den Argumentationen ist identisch. Darum wird die gerade skizzierte verkürzte Kapitalismuskritik, die auch aus den Texten und Choreographien so vieler Ultra-Gruppen spricht, häufig als strukturell antisemitisch bezeichnet wird. Nur um diesen Punkt deutlich zu machen: Es geht uns nicht um eine pauschale Verurteilung der Ultra-Bewegung. Ob diese antisemitische Dimension bewusst oder unbewusst mitgedacht wird, muss im konkreten Einzelfall entschieden werden. Deutlich wird aber, dass verkürzte Kapitalismuskritik dieser Form immer und notwendig eine offene Flanke zum Antisemitismus besitzt und an ein einfältiges Verständnis gesellschaftlicher Verhältnisse appelliert, das nicht in der Lage ist, abstrakte Strukturen zu begreifen.
Wer »modernen Fußball« als Resultat einer über die Stadien einbrechende Kommerzialisierung kritisiert, wer diffuse Kapitalismuskritik als konkrete Finanzkapitalkritik ausbuchstabiert, hat die Denklogik des Antisemitismus bereits internalisiert – und das möglicherweise sogar, ohne es begriffen zu haben. Wir wollen keinesfalls als Fürsprecher von Sitzplatzkurven, TV-gerechter Eventkultur oder irrwitziger Transfersummen auftreten. Es kann nicht darum gehen, die überbordende Verschuldung von Fußballclubs im verzweifelten Streben nach Wettbewerbsfähigkeit zu entschuldigen. Wir sprechen uns nicht für solche Begleitphänomene einer zunehmenden Kommerzialisierung des Sports aus – aber gegen eine zu kurz gedachte, unterkomplexe Kritik daran. Denn die ist mindestens so gefährlich wie der Gegenstand dieser Kritik.
In diesem Sinne, etwas augenzwinkernd: »Für mehr modernen Fußball!«
Weiterlesen:
- Sämtliche Folgeartikel zum Schlagwort »moderner Fußball« in unserem Archiv.
- »Geliebter moderner Fußball« bei Trainer Baade.
- »Im Visier der Antikapitalisten« bei Lizas Welt.
- »Getrennt in den Farben – Vereint in der Sache« bei Bonjour Tristesse.
- »Red Bull verleiht Prügel« – Interview mit der Jungle World (»Positive Rückmeldungen von organisierten Fußballfans gab es dagegen nicht, bis auf ganz wenige Ausnahmen wie die Bremer Ultragruppe »Infamous Youth«. Manche fanden unsere Parodie auf die Gewaltaffinität ostdeutscher Fußballfans zwar gelungen – warum wir aber ausgerechnet »Red Bull« für unsere Aktion ausgesucht hatten, war ihnen auch nicht klar.)«
- »Die Braunhemden vom Millerntor. Der Hamburger Heimatschutz gegen moderne Unzumutbarkeiten« bei Bonjour Tristesse.
Postscriptum.
Unseren Sticker »Für mehr modernen Fußball!« gibt es hier.
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