»If you work for a living, why do you kill yourself working?« – Tuco
Werder Bremens neuer Trikotsponsor heisst Wiesenhof. In einigen Wochen heisst Werders Trikotsponsor »Oldenburger Geflügelspezialitäten«. Negative Schlagzeilen, die auf Berichte über Hygienemängel und Tierquälerei zurückgehen, zwingen den Geflügelmastbetrieb zu diesem prekären Schritt. Während die Geschäftsführung den gelungenen Deal lobt, herrscht in weiten Teilen des Bremer Fanlagers blanke Empörung. Foren borden über, Politiker_innen schwingen die Moralkeule und vorm Weserstadion standen gestern zu allem Überfluss drei Mitglieder der Holocaust-Relativierer von PETA – mit toten Puten auf dem Arm. Um nicht von Beginn an missverstanden zu werden: Der Wiesenhof-Deal, bei Twitter mittlerweile augenzwinkernd als #Chickengate bezeichnet, ist peinlich und wird Werder Bremen auf lange Sicht eher schaden als nutzen. Kritik am Visbeker Unternehmen ist wichtig und richtig – aber die richtige Form der Kritik ist dabei am wichtigsten.
Von der Moralkeulen-Fraktion soll hier gar nicht erst die Rede sein. Glücklicherweise wurde uns diese Arbeit auch schon abgenommen: Dass die Unterscheidung von »guten« und »schlechten Konzernen« nur bedingt hilfreich bei der Bewertung des neuen Sponsors ist, erläutert der Lichterkarussell-Blog aus Hamburg/St.Pauli sehr treffend und klar. Leider versteigt sich der Autor anschließend zu Aussagen der folgenden Art:
»Es geht hier um Profit, um Gewinnmaximierung. Die Nachfrage nach günstiger Wurst erzeugt ein entsprechendes Angebot und anders herum. Entsprechend ist der Fleischkonsum auf Rekordniveau und die Entstehungsbedingungen des Fleisches sind dem Wesen des Systems gewissermaßen äquivalent. Die verkürzte Gutgläubigkeit, es sei damit getan, den ›Ausnahmefall Wiesenhof‹ zu kritisieren, ist symptomatisch für die Zeit der ›99 Prozent‹, die immer noch glauben, es könne eine gute (soziale?) Marktwirtschaft geben. Die Problemanalyse der ›shitstormenden‹ Fußballfans erinnert erschreckend an den durchaus bekannten Fokus ihrer Kritik auf den ›modernen Fußball‹, bei der stets vergessen wird, dass jener lediglich Auswirkung des kapitalistischen Systems ist.« (Quelle)
Es folgen etwas längliche Passagen über die »neoliberale« Biofleisch-Attitüde, das unmögliche richtige Leben im Falschen und nicht zuletzt die Forderung, dass sich das kritische Bewusstsein auf »das Ganze» zu beziehen habe. Dass hierbei wohl mit letzter Tinte und unter der Hand der Markt, die Bedingungen seiner Möglichkeit und nicht zuletzt die Produktionsbedingungen – drei völlig unterschiedliche Dinge also – kurzerhand als »das kapitialistische System« gleichgesetzt werden, muss irritieren. Es ist diese Form der Komplexitätsreduktion, die an die verkürzte Kritik modernen Fußballs erinnert. Aber davor wähnt sich der Autor sicher und davon mag er nicht sprechen – und die von ihm so bezeichneten »99%« natürlich auch nicht. Das kapitalistische System tötet die Puten in Wiesenhofs Agrarfabriken? Und erst die Gewinnmaximierung macht aus einem Lebewesen ein verwertbares Objekt? Das muss in vielerlei Hinsicht verwundern: Als sei erst im Übergang zur kapitialistischen Produktionsweise das Tier als ein verwertbares Objekt entdeckt worden! Dass die Zunahme der städtisch-industriellen Bevölkerung und der technische Fortschritt eine nie zuvor dagewesene Steigerung der Nahrungsmittelproduktion nötig und möglich machten, kann nicht von der Hand gewiesen werden. Geschenkt. Es handelt sich dabei um Begleiterscheinungen im Zuge der Zunahme von Wohlstand und Zivilisation.
Die Kehrseite urbaner Kultur kapitalistischer Prägung war und ist die romantische Verklärung ländlicher Beschaulichkeit und Einfachheit, die Suche nach dem Ursprünglichen und Unverfremdeten, kurz: eine Sehnsucht nach vorzivilisatorischen Zuständen. Dort kommen wir an, wenn das vermeintlich »kritische Bewusstsein«, das in Wahrheit nur ein wortradikales ist, Markt, Freiheit und Produktion gemeinsam (als ein halluziniertes Ganzes) streichen will. An Stelle der Einsicht, dass eben der Markt noch am ehesten das unerreichte Ideal der bürgerlich-staatenlosen Weltgesellschaft – wie seinerzeit von Marx himself erträumt – realisiert hat, schiebt sich die Ablehnung ihrer Möglichkeitsbedingungen: also von Individualität, Luxus, Fortschritt, Weltmarkt. Das ist schlimmer als die Wellness-Sorgen der 99%.
Zurück zu Wiesenhof: Es ist in größerer Perspektive, etwa mit Blick auf die Versorgungslage der Weltbevölkerung, ganz bestimmt sinnvoll, wenn in der Summe weniger Fleisch gegessen würde. Eine solche Einsicht muss nicht ethisch oder gar tierrechtlerisch begründet werden. Vorallem aber nicht für den Preis, anstelle eines anonymen Marktes und durch Zurückweisung des »kapitalistischen Systems« überkommene Realitäten von vorgestern zu reaktivieren: Jenseits »des Systems« lauern Horden, Sippen, Stämme, Blut oder Boden. Das Flirten mit Unsinn ist ein spätestens seit Rousseau gerne wiederholter Fehler sich nonkonform und anti-kapiltalistisch gerierender »Kritiker«.
Edit: Zum Textarchiv »Für mehr modernen Fußball«
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