Der folgende Text erschien ursprünglich als Gastbeitrag auf 120minuten.net. Wir veröffentlichen ihn nun auch auf unserer eigenen Seite, damit er Eingang in unser Textarchiv zum »Modernen Fußball« findet. Eine einführende Literatursammlung zum Thema haben wir hier zusammengestellt. Die der Erstveröffentlichung des nachfolgenden Texts anschließende Diskussion ist hier nachzulesen.
»This is the modern world,
we don’t need no one
to tell us what’s right or wrong.«
– The Jam
»Nous n’avons jamais été modernes.«
– Bruno Latour
Der sogenannte »Moderne Fußball« und seine Auswirkungen auf Fans, Vereine und Verbände sind allgegenwärtig und nicht zu übersehen. Überall dort, wo die schönste Nebensache der Welt in professioneller Weise betrieben wird, treten seine Konsequenzen heute mehr oder weniger offen zu Tage: bei Stadionbesuchen und Fernsehübertragungen, in den nationalen Ligen und bei internationalen Pokalwettbewerben, nicht zuletzt im Rahmen der Mega-Events wie Europa- oder Weltmeisterschaften. Munter werden Anstoßzeiten zugunsten der übertragenden TV-Sender verschoben, die Namensrechte der Spielstätten vermarktet, Stehkurven weichen Sitzplätzen oder VIP-Logen, Eintrittspreise steigen stetig und etablierte Clubs werden zum Luxusspielzeug oder zur Geldanlage finanzkräftiger Investoren, die selbst vor dem Wechsel der Vereinsfarben oder -namen nicht zurückschrecken. Effizient nutzt man jede freie Minute für die Präsentation von Sponsoren oder für die Ausstrahlung penetranter Werbeblöcke per Videoscreen. Und ja: Das nervt. Auch wir mögen bezahlbare Stehplätze, familiäre U23-Heimspiele in der Regionalliga oder Trikots ohne dubiose Brustsponsoren. Aber das ist nur eine Seite der Medaille.
Denn genauso allgegenwärtig wie die unbestreitbar negativen Folgeerscheinungen des »Modernen Fußballs« ist mittlerweile seine offene Ablehnung – zumindest überall dort, wo sich das Publikum »kritisch« wähnt. Das gilt in besonderem Maße für jene Fans, die sich unter dem Label »Ultrà« versammeln und deren selbsterklärtes Ziel die Entkommerzialisierung und Retraditionalisierung des Sports und der Fankultur ist. Ein omnipräsenter Slogan bringt die Ablehnung deutlich auf den Punkt: »Gegen den Modernen Fußball!« prangt trotzig auf Spruchbändern, die sich heute auch in der letzten Fankurve der Welt finden lassen. Die Aussage repräsentiert eine Haltung, die nicht ohne Rückgriff auf die kritische Gegenkultur der Ultràs verstanden werden kann; denn die rigide Ablehnung des »Produkts Fußball«, wie man im Jargon verkündet, ist essentiell und identitätsstiftend für das Selbstverständnis vieler Ultrà-Gruppen – sie eint sogar sportlich oder politisch verfeindete Szenen. Dabei ist im Einzelfall nicht immer klar, wogegen man agitiert und und was man sich unter dem »Modernen Fußball« im Detail vorzustellen habe. Die ganze Angelegenheit ist unübersichtlich und widersetzt sich eindeutigen Antworten. Doch das hält selbsternannte Kritiker nicht davon ab, mit grob vereinfachten Antworten auf komplizierte Fragen aufzuwarten. Im Gegenteil. Und spätestens damit fangen Probleme ganz eigener Art an.
Als Fußballblogger beschäftigen wir uns vor allem mit den Geschehnissen rund um den SV Werder Bremen. Aber auch der »Moderne Fußball« ist uns ein regelmäßiger Begleiter geworden – nicht nur praktisch im Stadion, sondern auch in theoretischer Hinsicht: Von Anfang an veröffentlichen wir auf unserer Seite vert-et-blanc.net Artikel über Formen der Kritik am »Modernen Fußball« und über die in unseren Augen ebenso notwendige Kritik an der Kritik. Das kann in Form ausschweifender Texte geschehen, garniert mit »Soziologensprech und Angebervokabeln« (P. Köster). Wir nähern uns der Angelegenheit aber mindestens ebenso gerne augenzwinkernd, etwa durch das Spiel mit szenetypischen Codes (zum Beispiel durch den Druck von Stickern mit der Parole »Für mehr modernen Fußball!«). So oder so: Unser Interesse sorgt für Irritation. Regelmäßig erreichen uns Fragen, ob das denn ernst gemeint sei, unsere Liaison mit dem »Modernen Fußball«. Oder überhaupt ernst gemeint sein könne. Und ob wir das nicht alles »mal kurz erklären« könnten. Und so gerne wir das täten – immer wieder fehlt uns ein einführender Text, der die Eckpunkte unserer Unbequemheit mit der geläufigen Art der Kritik am »Modernen Fußball« aufzeigt.
Dass die Herausgeber von »120 Minuten« mit einer Anfrage nach Texten für ihre neue Seite an uns herantraten, stellt insofern einen willkommenen Anlass dar, verschiedene zuvor in einzelnen Texten veröffentlichte Aspekte der Diskussion in einem einführenden Text zu versammeln. Soweit der Vorrede – worum geht es konkret? Ausgehend vom Import der Ultràkultur und der damit einhergehenden Öffnung des Horizonts für eine kritische Auseinandersetzung mit der Verfasstheit des Fußballs wollen wir zunächst einmal ein Schlaglicht auf die Gefahr kurzschlüssiger Kapitalismuskritik und ihre Nähe zum häufig miss- oder gar nicht verstandenen Konzept des »strukturellen Antisemitismus« werfen. Anschließend wird an typischen Unterscheidungen der kritischen Szene (»wahre Fans« vs. »Erfolgsfans«, »Traditionsvereine« vs. »Plastikclubs«, »Vereinstreue« vs. »Söldner«) das zugrundeliegende Beobachtungsschema beispielhaft aufgezeigt und problematisiert. Wir hoffen, dass der Artikel Anlässe für eine weitere Diskussion und Reflexion im Zuge der Auseinandersetzung mit jenem unbekannten Wesen darstellt, das wir »Moderner Fußball« nennen.
The Kids are ultrà!
»Das Ultra-Phänomen spiegelt im Fußball die Kleinräumigkeit von Restbindung und auch die infantile Neigung, nicht mehr andere, sondern allein sich selbst […] mit Zuneigung zu bedenken […]. Hier gibt es die Eigenen und die Anderen in einer derartigen Beengtheit, dass hier […] die aggressiv-paranoide Seite der Selbstfeier sichtbar wird.«
– Uli Krug (»Blindes Grätschen ist nicht mehr gefragt«)
Seit sich Anfang der 1990er Jahre auch in Deutschland erste Gruppierungen unter dem aus Italien geborgten Label »Ultrà« zur Unterstützung von Bundesligavereinen formierten, hat sich insbesondere seit der Jahrtausendwende eine leidenschaftliche Jugendkultur herausgebildet, die bisweilen zu eigensinnigen Superlativen taugt: Thorsten Schaar etwa bezeichnete Ultrà jüngst als »die wichtigste Jugendkultur in Deutschland seit Punk und Techno« (Intro #223, S.57). Jenseits oberflächlicher Kennzeichen, in Hinsicht auf den vorherrschenden Dresscode oder die Trends zu Dauergesängen, Doppelhaltern oder riesigen Schwenkfahnen, fällt es schwer, den Begriff und das Konzept inhaltlich exakt zu bestimmen. Zu unterschiedlich sind die einzelnen Gruppierungen, nicht zuletzt durch regionale und politische Unterschiede. Vermutlich ist es aber gerade diese inhaltliche Unterbestimmtheit, die dazu beiträgt, dass Ultrà sich länder- und fanszeneübergreifend als so besonders jugendkulturell anschlussfähig erweisen konnte und kann.
Was verschiedene Gruppen bei allen Differenzen eint, ist der Anspruch, den eigenen Club durch aktiven Support auch über die obligatorischen neunzig Minuten hinaus besonders leidenschaftlich und bedingungslos zu unterstützen. Variantenreich wird betont, dass Ultrà mehr bedeute als schlichtes Fansein – es handele sich um eine besondere Haltung zum Fußball oder gar zum Leben. Mehr noch: Es ist diese Haltung selbst, die in den Fokus der Aufmerksamkeit der Ultrà-Fans rückt, der Fußball markiert lediglich den Kontext. Aus diesem Selbstverständnis speist sich nicht selten die Selbstwahrnehmung als »bessere« oder »wahrere« Fans: Fans, die Fußball nicht »bloß konsumieren«, sondern unbedingt »leben«.
»Le Football moderne?«
Mit diesem Selbstbild geht eine deutliche Anlehnung der Kommerzialisierung des Sports einher, die in deutlichem Widerspruch zur »Tradition des Fußballs« stehe und diesen in seinem Wesenskern bedrohe – sinngemäße Textpassagen lassen sich in fast allen schriftlichen Selbstdarstellungen finden. Stellvertretend für Viele sei an dieser Stelle auf ein Beispiel aus München verwiesen:
»Auf den Punkt gebracht ist der ›moderne Fußball‹ für uns die Entwicklung, dass das Interesse der Profitmaximierung über alle anderen Interessen im Fußball gestellt wird. […] Entsprechend verstehen wir die Fußballvereine als das Gut der Fankurven und damit der Jugendlichen einer Stadt/Region, die sich mit diesen identifizieren.«
– Schickeria München (»Manifest gegen den Modernen Fußball«)
Der »Moderne Fußball« bedroht die heile Fußballwelt. Man weiß zwar nicht so ganz genau, wann es die mal gab und was man sich darunter vorzustellen habe – aber ehrlicher, echter und weniger kommerziell war es auf jeden Fall. Häufig wird bei dieser Gelegenheit auf die Legende vom Fußball als Proletariersport verwiesen. Die kulturpessimistische Argumentationsfigur ist keinesfalls unbekannt, neu ist lediglich ihre Anwendung auf den Fußball: Die romantische Verklärung (ländlicher) Beschaulichkeit und Einfachheit war stets die Kehrseite urbaner Kultur kapitalistischer Prägung. Die Suche nach dem Ursprünglichen und Unverfremdeten, kurz: eine Sehnsucht nach vorzivilisatorischen Zuständen, muss als pathologische Reaktion auf die Überkomplexität moderner, funktional differenzierter Gesellschaften begriffen werden. Und als Artikulation der je eigenen Unbequemheit damit. Aber es steht mehr auf dem Spiel aus subkulturelle Distinktionsgewinne: Das zugrundeliegende Deutungsmuster ist in seiner Verkürzung gefährlich. Um diesen Punkt deutlich zu machen erscheint es uns ratsam, ein kurzes Schlaglicht auf zwei zentrale Aspekte der kurzschlüssigen Argumentation zu werfen. Sie bedient sich auch im Fall des »Modernen Fußballs« – wie die meiste verkürzte Kapitalismuskritik – der personalisierten Zurechnung tatsächlich abstrakter Herrschaftsverhältnisse. Dies geschieht typischerweise in zwei Schritten:
- Abstrakter Kommerz. Als »böser Kern« der Fußballkultur kapitalistischer Prägung wird das abstrakte »Finanzkapital« bzw. die kapitalistische Finanzzirkulation ausgemacht. Beispielsweise wenn »die Finanzmärkte« als ein Akteur an sich beschrieben werden (die konkrete Lohnarbeit des »ehrlichen Arbeiters«, die in der unseligen Dichotomie vom »raffenden« und »schaffenden Kapital« als Positivwert auftritt, wird dagegen in der Regel nicht als problematisch wahrgenommen…).
- Konkrete Projektionsflächen. In einem zweiten Schritt wird die gleichermaßen falsche wie unterkomplexe Abstraktion wieder auf konkrete Personen zugerechnet. Sobald die vermeintlich Verantwortlichen identifiziert worden sind, können sie in einem simplen Schema von gut und böse gefasst werden. Auf den Fußball gewendet bedeutet das: »gut« sind die lokal-traditionellen Fans und Vereine (die ihr Herzblut für den Verein geben und ein angestammtes Recht auf ihren Boden in den Kurven haben), »böse« sind dagegen die »Eventfans«, windige Manager und Investoren, Plastikvereine und Großkonzerne.
Der Prototyp des verabscheuungswürdigen (Finanz-)Kapitals ist der Spekulant. Warum ist die Abspaltung einzelner Aspekte des Kapitalverhältnisses (Zirkulationssphäre, Geld, Zins…) sowie die anschließende Zurechnung auf Einzelpersonen oder Institutionen so hochgradig problematisch? Auch und gerade, wenn sie unbewusst mitgeführt wird?
Solche Argumentation bewegt sich in schlechter Nachbarschaft. Sie fügt sich nämlich mustergültig in ideologische Denkmuster, die anschlussfähig für einen strukturellen (oder mit leicht anderer Drift: latenten) Antisemitismus sind, der auch und gerade im Fußball immer wieder in offenen Antisemitismus umschlägt. Als »strukturell antisemitisch« bezeichnen wir diese Deutungsmuster, weil sich ihre Vertreter nicht explizit gegen Juden richten, sich ihre Begrifflichkeit und Argumentationsstruktur aber mit konventionell antisemitischen Ideologien deckt. Die Proponenten dieses strukturellen Antisemitismus sind sich der Tatsache um Parallelen und Deckungsgleichheiten in Denkfiguren in der Regel nicht bewusst und weisen einen solchen Vorwurf entsprechend empört von sich.
»Für mehr modernen Fußball!«
»Die Fußballvereine gehören ihren Fans, die diesen schon Jahre überall hin folgen und ihr Herzblut dafür geben. Sie sollten kein Spielball von Profil neurotischen [sic!] Managern und Investoren sein, kein Spekulationsobjekt für Aktionäre und Konzerne.«
– Schickeria München (»Manifest gegen den Modernen Fußball«, s.o.)
Es bedienen sich nicht nur Ultrà-Gruppierungen solcher Deutungsmuster. Aber das macht die Sache nicht besser, im Gegenteil. Verkürzte Kritik mit offener Flanke zu antisemitischen Denkfiguren ist in weiten Teilen der sogenannten globalisierungs- oder kapitalismuskritischen Bewegungen jüngerer Zeit anzutreffen. Die Deutungsmuster haben eine jahrhundertealte Geschichte: Spätestens seit dem 13. Jahrhundert wurden immer wieder Juden mit den aus der Anwendung dieses Erklärungsmusters resultierenden Stereotypen identifiziert und als Wucherer, Spekulanten, Betrüger oder ausbeuterische Kapitalisten denunziert. Mehr und mehr wurden sie dabei als parasitäre Feinde eines ansonsten gesunden »Volkskörpers« begriffen.
»Kauft nicht bei Geschäftemachern, die auf dem Rücken unserer Kurve Kohle machen!«
– Schickeria München (»Fankultur vs. Geschäftemacher«)
In aller Deutlichkeit: Es geht uns nicht um eine (pauschale) Verurteilung der Ultrà-Bewegung. Es geht uns schon gar nicht darum Ultràs oder Fußballtraditionalisten als Antisemiten zu denunzieren (auch wenn uns das oft vorgeworfen worden ist). Ob die verhängnisvolle Nähe bewusst oder unbewusst mitgedacht wird, muss im konkreten Einzelfall entschieden werden. Und wir kennen persönlich eine Menge Ultràs, die sich dieser Problematik sehr bewusst sind. Es geht uns eher darum, im Zuge ideologiekritischer Beobachtung zu fragen, welche Implikationen die antimoderne Ablehnung des »Modernen Fußballs« unter der Hand mit sich führt. Deutlich ist, dass eine verkürzte Kapitalismuskritik der oben skizzierten Form immer und notwendig eine offene Flanke zum Antisemitismus besitzt und an ein einfältiges Verständnis gesellschaftlicher Verhältnisse appelliert, das nicht in der Lage ist, abstrakte Strukturen als solche zu begreifen. Wer »modernen Fußball« als Resultat einer über die Stadien einbrechende Kommerzialisierung kritisiert und dabei diffuse Kapitalismuskritik als konkrete Finanzkapitalkritik ausbuchstabiert, hat die Denklogik des Antisemitismus bereits internalisiert.
Dabei mangelt es nicht an Anlässen, die stutzig machen sollten. Im Folgenden soll die Kritik der Kritik an zwei konkreten Beispielen ausbuchstabiert werden: In der Unterscheidung »wahrer« und »unwahrer Fans« sowie dem Vorwurf des Söldnertums in Richtung »ehrloser« Profifußballer.
»Wahre Fans« – der Fußballjargon der Eigentlichkeit
»Hier geht es um Ehre, Stolz, Loyalität, Fanatismus, Leidenschaft, Liebe, Hingabe, Aufopferungsbereitschaft, Intensität, Identität, Emotionen, Enthusiasmus, Leiden, Glaube, Wille, Kampfbereitschaft, Geilheit, Stärke, Macht – um Ultras.«
– Steffen Krapf (»Wir schreiben das Jahr 2007…«, Blickfang Ultrà #1)
In verhängnisvoller Weise verschränkt sich die verkürzte Form der Kapitalismuskritik mit dem elitären (Selbst-)Bild vieler Fußballtraditionalisten. Dabei sollte man Vorsicht walten lassen, wann immer die Unterscheidung von gut und böse normativ auf die soziale Wirklichkeit projiziert wird. Das gilt, pars pro toto, auch für den Fußball: Gerade hier wird immer wieder munter zwischen guten und schlechten Fans unterschieden (»Ultràs vs. Erfolgs- oder Eventfans«), zwischen Spielern besseren oder schlechteren Charakters (»Vereinstreue« vs. »Söldner«), zwischen echten und künstlichen Vereinen (»Traditionsclubs« vs. »Werks- oder Oligarchenclubs«). Immer droht »das Eigentliche« und »das Echte« unterlaufen zu werden und diese Entwicklung bringt die eigene Identität in Gefahr: Wahlweise wird die Fankultur als solche als bedroht wahrgenommen (zu der man sich selbstverständlich dazurechnet), mal die eigene Mannschaft beziehungsweise der eigene Verein, gerne auch die traditionelle Verfasstheit der jeweiligen Liga und nicht zuletzt der Fußball höchstselbst. Das Gefühl einer Bedrohung rechtfertigt eine bisweilen aggressiv vorgetragene (Selbst-)Verteidigung. Die normative Unterscheidung von gut und böse wird totalisiert, indem sie in das Schema von Freund und Feind übertragen wird: Das bedrohliche und un-heimliche Andere, nun zum Feind deklariert, darf und muss zur eigenen Selbsterhaltung bekämpft werden. Dieser Übertrag erweist sich als besonders verhängnisvoll: Denn eben jene Freund/Feind-Unterscheidung ist es, die der Staatsrechtler und »Kronjurist des Dritten Reiches« (Gurian) Carl Schmitt in seiner erstmals 1927 veröffentlichten und für Hitler mehrfach überarbeiteten Schrift »Der Begriff des Politischen« als »die spezifisch politische Unterscheidung« bezeichnete. Die Anwendung dieser »äußersten Unterscheidung« erlaubte es Schmitt und seinen Nazi-Gefolgsleuten, »das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktsfalle [als] die Negation der eigenen Art Existenz« zu beschreiben und seine Bekämpfung zu rechtfertigen »um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren.«
Herzblut und Boden
»Doch bei vielen scheint alles so gezwungen und aufgesetzt zu sein. Wo sind die wahren, echten Gefühle? Allein im Stadion muss ich mich manchmal wundern, wie wenig Herzblut und Leidenschaft von den Leuten verkörpert wird. Wenn unsere Elf nach vorne stürmt, wenn die Gesänge in der Kurve angestimmt werden! Wo ist euer Stolz? Wo ist eure Ehre?«
– Steffen Krapf (»Wir schreiben das Jahr 2007…«, s.o.)
Nicht jeder Ultrà-Fan landet bei Schmitt. Aber dort ist die verhängnisvolle ideengeschichtliche Tradition zu verorten, in die man sich begibt, wenn man es sich allzu leicht macht mit der Kritik. Wenn man seinen traditionalistischen Fußball gentrifiziert sieht durch Familienväter in den Kurven, durch »uneigentliche« Erfolgsfans auf den Sitzplätzen, durch Bosse und Yuppies in ihren VIP-Logen und sie allesamt zu parasitären Widersachern des wahren Fußballs deklariert: Da werden Kurven rein gehalten und die eigene Scholle verteidigt. Wenn das Herzblut der authentischen Fußballkultur mit dem vorgeblichen Anrecht der »echten Fans« auf ihren Platz in der Kurve verquickt wird, tritt hervor, was solchen Argumentationsmustern immer schon latent zu Grunde liegt: eine kollektivistische Blut-und-Boden-Ideologie.
Spätestens wenn diese verkürzten Theoreme unter dem Eindruck existenzieller Negation der eigenen Art wirksam werden, ist dem anti-modernen Mob der Weg zur Legitimation körperlicher Gewaltanwendung geebnet. Im Marodieren und Wüten tritt der Kern der modernitätsfeindlichen Weltanschauung überdeutlich zu Tage: gewalttätige Triebabfuhr gegen den Anderen ist die konsequente Zuspitzung des halbgaren Geredes von der Reinheit der eigenen Fankultur. Soweit muss es nicht in jedem Fall kommen. Das ideologische Fundament ist aber immer schon dort präsent, wo man sich anmaßt, zwischen »besseren« und »schlechteren« Fans sortieren zu können.
Söldner
Dieses Beobachtungsschema lässt sich auch bei der Beurteilung von Spielern entdecken: Gegen Sportler richtet sich eine eigene Spielart antimoderner Kritik, die einen diffus als »Entwurzelung« empfundenen Bedeutungsverlust regionaler und sozialer Nähe anprangert. Im Zuge der fortschreitenden Professionalisierung des Sports rückten Kategorien wie Herkunft oder Milieu gegenüber nun relevanteren Faktoren für die Verpflichtung eines Spielers zunehmend in den Hintergrund. Taktische und finanzielle Erwägungen, Marketinggesichtspunkte, Spielerprofile etc. spielen heutzutage für Spieler wie Clubs eine entscheidendere Rolle als die Frage, in welcher Vorstadt man geboren wurde.
Für die Fans eines Vereins aber werden Vereinswechsel häufig moralisch aufgeladen (dies gilt in der Regel übrigens nur dann, wenn der je eigene Verein verlassen wird – das Gegenteil scheint weniger problematisch zu sein…): »Söldner!« ruft der enttäuschte Fan dem abtrünnigen Spieler entrüstet hinterher. Es ist in solchen Fällen regelmäßig von der »Illoyalität« des Spielers oder gar von »Verrat« die Rede und natürlich von der »Geldgier« des wechselwilligen Spielers – Vorwürfe, die Söldnern immer schon entgegengebracht worden sind: Waren diese treulosen Gesellen doch jederzeit bereit, ihre Auftraggeber für eine passende Summe zu verraten und die Seiten zu wechseln. Ein unerhörtes wie unehrenhaftes Betragen (augenscheinlich ist der Gegenpart des Söldners der Soldat, dem das Wechseln der Fronten unmöglich ist ohne als Deserteur oder »Vaterlandsverräter« zu gelten). Dem Söldner ist nicht zu trauen, seine grundlegende Illoyalität schlägt sich in seiner Käuflichkeit nieder und es ist denn wohl auch kein Zufall, dass die Anwendung der Unterscheidung vom treuen Vereinsspieler und dem ehrlosen Söldner eine Spiegelung der Differenz zwischen zwischen »wahren Fans« und »bloßen Kunden« ist.
»Gegen den vormodernen Fußball!«
»Um das eigene Dasein jedoch nicht in Frage stellen zu müssen und um jedweden Zweifel an jenen Gewissheiten und Zwängen zu vertreiben, die ihm das Leben zur Hölle machen, bedarf es […] des Angriffs auf die Abweichler. Diesen wird genau das unterstellt, wovon der Konformist selbst träumt, was er aber verdrängt und sich versagt. Die Kommerzialisierung und die Transformation des Fußballs in einen Bestandteil der Popkultur sind als Motor einer überfälligen Liberalisierung zweifellos zu begrüßen.«
– Alex Feuerherdt (»Die letzte Bastion der Heteros«)
Was bleibt? Wer argumentativ auf Pfaden jenseits des Fußball-Mainstreams wandelt, sollte aufmerksam nach links und rechts blicken. Jenseits des »Modernen Fußballs« lauern Horden, Sippen, Stämme, Blut oder Boden. Das Flirten mit dem antimodernen Unsinn ist ein spätestens seit Rousseau gerne wiederholter Fehler sich nonkonform und antikapitalistisch gerierender »Kritiker«. Viele negativen Folgen der Kommerzialisierung des Sports sind offensichtlich; für die negativen Folgen einer zu schlichten Kritik gilt das nicht. Wir sprechen uns nicht für solche Begleitphänomene einer zunehmenden Kommerzialisierung des Sports aus – sondern gegen eine zu kurz gedachte, unterkomplexe Kritik daran. Denn diese ist mindestens so gefährlich wie der Gegenstand der Kritik selbst und mit ihr wollen wir nicht gemeinsame Sache machen.
Es gibt am Ende noch Positives zu vermelden, bescheiden zwar, aber fraglos bemerkenswert: Nur schwerlich kann von der Hand gewiesen werden, dass die »Gentrifizierung« der Fußballstadien und die damit einhergehende Veränderung des Publikums zivilisierende Effekte hatte und hat. Dumpfe Parolen, gegrölt aus tausend Kehlen, sind seltener geworden – für Entwarnung ist es aber zu früh. Denn regelmäßig bedient sich das notwendig falsche Bewusstsein heute subtilerer Kanäle und nutzt aktualisierte Chiffren für seine Atavismen – das gilt für Homophobie, Antisemitismus und Rassismus in ähnlicher Weise. Jenseits des Blitzlichtgewitters, in den unteren Ligen der Republik und im antimodernen Habitus adoleszierender Männerbünde, herrschen nach wie vor erschreckende Zustände. Dort, wo der anachronistische Wunsch nach Gemeinschaft und (kollektiver) Identität am virulentesten wirkt, bedarf es noch immer des Anderen als Kontrastfolie eigener Überlegenheit. Die Zivilisierung der oberen Spielklassen ist nicht abgeschlossen; sie ist laufendes Projekt. Eine Zivilisierung der unteren Ligen liegt in weiter Ferne. Ihre notwendige Bedingung ist ein Bewusstsein für das falsche Bewusstsein.
In diesem Sinne, etwas augenzwinkernd:
»Für mehr modernen Fußball!«
Ein wirklich hervorragender Artikel. Leider finden sich Texte dieser Qualität viel zu selten im Dunstkreis der Fußball-Blog-Szene. Da hier so viele Punkte angesprochen wurden, denen ich zustimme, greife ich mir nur einen heraus, um auf diesen etwas weiter einzugehen.
Die Freund-Feind-Unterscheidung Schmitts halte ich dabei für eine sehr lohnenswerte Auseinandersetzung bei der Betrachtung des Bildes, dass der „echte Fan“ von dem „ursprünglichen Fußball“ zeichnet. Allerdings würde ich die Parallele sogar noch früher ansetzen, als ihr das in dem kurzen Abschnitt angedeutet habt.
Im Gegensatz zur herrschenden Meinung in der Rezeption Carl Schmitts, ist dieser sicherlich kein „klarer Denker“, sondern verstrickt sich sehr häufig in Widersprüche. So auch bei der Unterscheidung von Freund und Feind, die auf verschiedenen Ebenen verschiedenes Bedeutet.
Auf der ersten Ebene stellt Schmitt die politische Welt als ein Pluriversum von verschiedenen Feindgruppierungen dar. Der Inhalt dieser Gruppen (die im Begriff des Politischen noch nicht biologisch aufgeladen sind) ist vollkommen willkürlich und ihre einzige Bestimmung ist es Freund und Feind zu unterscheiden. Somit stehen sich diese Gruppen auch gleichberechtigt gegenüber. Jede von ihnen hat die Berechtigung ihre eigenen Moralvorstellungen, ihr eigenes Recht, ihre eigene Kultur, usw. zu setzen. Carl Schmitt ist damit ein prototypischer Partikularist. Und wie bei jedem Partikularismus, gibt es auch bei ihm einen universalistischen Kern. Normalerweise ist dieser mit dem Satz: Es gibt keine allgemeine Wahrheit! auf den Punkt gebracht. Bei Schmitt ist es die Freund-Feind-Unterscheidung, die als einzige allgemeine Gültigkeit in seinem Pluriversum, der sich willkürlich bestimmenden und untereinander bekämpfenden Gruppen, hat.
Auf der nächsten Ebene, gibt es allerdings immer wieder Aussagen, die nahe legen, dass es eine Art Endgegner-Feindgruppierung gibt. Besonders deutlich wird das bei seinen weinerlichen klingenden Texten gegen den Liberalismus. Schmitt warnt dabei, dass diese Strömung das Politische, also den Kampf der verschiedenen Gruppen, neutralisieren und damit aufheben könnte. Was im „Begriff des Politischen“ noch als abstrakte Entwicklung beschrieben wird, konkretisiert sich für Schmitt schon recht bald im Juden.
Diese letzte Feindgruppierung ist also eine andere, als diejenigen, die in seinem Pluriversum beschrieben werden. Sie ist das potentielle Ende der Freund-Feind-Unterscheidung und muss – wenn man Schmitt weiterdenkt – auch zurückgedrängt werden, soll das Pluriversum der verschiedenen Gruppen weiterhin bestehen.
Wenn ich euren Text richtig verstanden habe, geht es bei eurer Analogie besonders um die zweite Ebene. Allerdings sehe ich auch Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung des Pluriversums als passende Vorlage für die „heile Fußballwelt“, in der alle Vereine gleichberechtigt, offen und fair in Konkurrenz (Kampf) zueinander treten. Diese Konstellation (die es natürlich nie gab) wird nun gegen die angeblich fremde Kommerzialisierung, meist konkretisiert als RBL, verteidigt. Und auf dieser Ebene ist es der Feind, der, wie ihr schon gesagt hattet, „die Negation der eigenen Art Existenz“, darstellt.
Nach dieser Logik wäre es z.B. der (Endgegner-)Feind RBL, der die gute und mit fairen Mitteln ausgetragene Feindschaft zwischen dem HSV und Werder Bremen aufzuheben droht, die doch weiterhin bestehen bleiben soll.
P.S.: Nachdem ich das nun ein paar mal gelesen habe, bin ich mir nicht mehr ganz sicher, ob meine Analogie nicht doch etwas zu weit getrieben ist. Ich hoffe die Stoßrichtung wird deutlich. Ich schicke ihn jetzt trotzdem mal ab und überlasse es anderen mich zu Berichtigen, einzuordnen, abzuschwächen und in den richtigen Kontext zu setzten.
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